Schritt für Schritt kraxle ich eine Sanddüne hinauf und lasse mich oben angekommen in den noch angenehm warmen Sand fallen. Während Robby das Abendessen vorbereitet, empfängt mich keine 300 Meter Luftlinie eine stille, die mir angenehm fremd vorkommt. Gebannt schaue ich in einen Sternenhimmel, den ich so noch nie zuvor gesehen habe.
Doch fangen wir von vorne an.
Ein wenig Touristen-Rallye, viel Abenteuer und die ganz große Wüste – so hat mir Robby das in einer seiner Mails, die ich irgendwann im Postfach liegen hatte, beschrieben. Eigentlich kenne ich diesen Exil-Bayer gar nicht richtig, als ich im Spätnovember dem deutschen Winter entfliehe und meinen Kommilitonen eine lange Nase mache. Meine Uni-Profs’ habe ich vorsichtshalber eingeweiht – Man weiß ja nie, wer mal das Lösegeld mitfinanzieren soll. Bis auf ein wenig Galgenhumor hörte ich zum Glück aber nur „Bon Voyage“ und die Bitte, möglichst an einem Stück wieder zu kommen.
Und so sitze ich auf Robbys frisch geputzter X-Challenge in seinem Vorgarten, etwas außerhalb des Tauchdomizils Hurghada am Roten Meer in Hurghada und warte auf die Dinge, die da kommen werden. Zwei Mitfahrer hatten sich noch angekündigt, Claus und Toni, welche auf fitgemachten BMW F650 GS vorlieb nehmen müssen. Eine letzte Ansprache, dann endlich der entscheidende Satz: „Keine zehn Kilometer“ verspricht Robby, „dann sind wir in der Wüste“. Mit diesen Worten setzt sich unsere Neuzeit-Karawane, bestehend aus vier Motorrädern, einem Jeep und einem pink bepinselten Unimog in Bewegung.
Etwa 2000 Liter Frischwasser sind in einem Tank auf dessen Ladefläche untergebracht. Dazu kommen 250 Liter Flaschenwasser und rund 1.100 Liter Treibstoff für die Verbrenner, die wir die Woche über spazieren fahren. Einen kleiner Seesack voll Gepäck von jedem von uns wird mit einer vollständigen Zeltausrüstung und Ersatzteilen für die Bikes aufgefüllt – ein irrer Aufwand für die gerade einmal einwöchige Tour. Ganz ungewohnt für uns Europäer: Die Smartphones bleiben mangels Funkmasten im Hotel. Nur ein Satellitentelefon für den Notfall ist unser Kontakt in belebtere Sphären.
Gut 60 Kilometer liegen am ersten Tag vor uns, danach soll es sich stetig bis auf knapp 100 steigern. Zuerst ein einfaches Gebiet zum aufwärmen, nichts aufwändiges oder kräftezehrendes, versprach mir Robby noch am Vorabend. „Und von dort an, sobald ihr Euch gewöhnt habt, können wir variieren“, fügt er noch hinzu. Jeweils vor Sonnenuntergang will er mit uns im Camp ankommen, auf dass wir noch gemeinsam die von ihm immer äußerst farbig beschriebenen Sonnenuntergänge bestaunen können. Diese Rechnung hatte er aber leider ohne unser Fahrkönnen gemacht.
Etwa zehn Kilometer meldet das GPS, dann gibt’s endlich was zu futtern. Mit Mühe und Bärenhunger quälen wir uns die letzten Kilometer einen kleinen Bergpass entlang. Mittlerweile wird es quasi sekündlich dunkler. Dann fällt an einer Biegung Toni von seiner Dakar und bricht den Kupplungshebel entzwei. Gefühlt Mutterseelenallein, denn die Vierräder sammeln uns nur zum Mittagessen ein, versuchen wir bei aufziehender Nachtschwärze den Hebel zu flicken. Schlagartig wird mir da bewusst, wie viel mir noch zum Lebenstraum Dakar-Pilot fehlt.
Nur gut dass uns Allradkraxler Walid bei seiner Routinetour einsammelt, nachdem wir zum vereinbarten Zeitpunkt nicht am Camp eintrafen. Die Gepäckbox mit den benötigten Ersatzteilen heben wir dementsprechend zügig vom Dach hinunter. Glück gehabt? Nein, Robby und seine Jungs haben schlicht an alles gedacht. So ist der kaputte Hebel binnen Minuten wieder durch einen neuen ersetzt.
Die für uns Hungrige so quälenden letzten Meter werden uns mit einem Festmahl am Lagerfeuer reich entschädigt. Allah ist eben mit den Standhaften. Die beiden Beduinen-Jungs geben sich richtig Mühe, uns unter dem Sternenhimmel mit Robbys Anleitung das Abendessen zu servieren. Sheik Abdel Saher, der Stammesfürst, sitzt währenddessen gemütlich am Feuer, trinkt seinen Schwarztee und wendet in aller Seelenruhe die am Vorabend frisch geschlachteten und von Robby marinierten Hähnchen. Inmitten der schier unendlichen Weite sitzen wir beisammen und fallen über das angerichtete Büffet her und schmachten über das fantastische Essen.
Während sich das Team um die Beduinen um den Abwasch kümmert, nutze ich die Gunst der Stunde um mit meinem Fotoklamotten die anliegenden Dünen und Hügel zu erklettern. Mich trennen nur ein paar Meter Luftlinie bei meinem nächtlichen Verdauungsspaziergang vom Camp im Nirgendwo Ägyptens. Und dennoch empfängt mich die große Unbekannte jeden Abend auf’s Neue: absolute Stille.
Gruselig so alleine durch die Nacht zu ziehen. Aber dennoch ist es zugleich auch erstaunlich entspannend. Keine WhatsApp-Nachrichten, kein Flugzeug am Horizont. Kein Autolärm, nicht einmal ein Zwitschern. Nur der sanft wehende Wind und ich. Die nächstgrößere Stadt ist so weit entfernt, dass die Himmelsbeobachtung hier mit einer gut sichtbaren Milchstraße mir am ersten Abend direkt einen steifen Nacken beschert. Irgendwann taucht der Sheik lautlos neben mir auf und versucht mir in gebrochenem Englisch die Gestirne zu erklären. Claus, mein Mitstreiter aus Stuttgart, würde das ganze „großartig!“ nennen. Und mir fällt es echt schwer, dem irgendwas passenderes zuzurichten. Immer wieder durchbrechen Sternschnuppen für kurze Zeit die besinnliche, einzig vom Mond erhellte Finsternis. Nächte wie aus dem Bilderbuch, wie aus Tausend und einer Nacht.
Von Tag zu Tag ändert sich die durchfahrene Szenerie immer wieder gewaltig. Von tiefen Schluchten und Tälern hin zu ewig sich ausdehnenden Steppen. Immer wieder flankiert von hohen Hügeln, kleinen Bergen und golden in der Sonne glänzenden Sanddünen. Mal ist der Sand Sonnengelb und rein wie das Rote Meer, dann wieder gesprenkelt mit schwarzen Gebrösel. Ägyptens Wüste bietet ein abwechslungsreiches Repertoire, wobei das wenigste auf unserer Route aus typischen Wüstensand bestand, wie man es vielleicht aus der Sahara kennt. Wüstenfuchs Robby weiß uns jedenfalls zu navigieren – und hat dabei oftmals einen Affenzahn drauf. Trotz des Handicaps mit seiner Ur-F650 brettert der eigentlich vorrangig als Tauchlehrer arbeitende Abenteurer wie ein Wahnsinniger durch die ägyptische Wüste.
Und auch wir sind nach den ersten Kilometern mittlerweile so fit, dass wir uns unter Aufsicht ein wenig austoben dürfen. Während in der Ferne eine kleine Herde Esel ihre Spuren gemütlich durch den Sand zieht, reißen wir am Gashahn und lassen die Eintöpfe arbeiten. Einen Hügel hinauf rasend bin ich mit Gaffen und halsbrecherisch Fahreinlagen schlussendlich doch etwas überfordert. Auf der Kuppe komme ich ins Straucheln, dann will mein Hinterrad mich in der Luft stehend überholen. Hier hilft keine Akrobatik mehr und lege die BMW mit langsam eintauchendem Hinterrad sanft in den von kleinen schwarzen Steinen gesprenkelten Sand. Und ich dachte schon, ich fahre sturzfrei durch’s Abenteuer.
Nachdem sich die Jungs gegen eine Route durch tiefen Sand ausgesprochen haben, fahren wir einen kleinen Umweg durch steiniges Gelände. Walid hatte uns am Lagerfeuer schon von ungewöhnlich häufigen und heftigen Unwettern der letzten Jahre erzählt. Dass wir aber gleich dessen Früchte ernten würden, damit hatte auch Robby nicht gerechnet. Aus einer laut Robby und Walid ursprünglich recht ruhigen Piste ist ein ausgetrocknetes und schier unüberschaubares Flussbett geworden. Dicke Steine, dazwischen tiefe Furchen und nicht aufhören wollende Schläge durch die Federbeine zerren an Körper und Material. Während ich mir unheimlich Mühe gebe, auf den Fotos ein wenig wie Señor Coma umherzufahren, und dabei die jungen Knochen heile zu lassen, fließt mir der Schweiß in Strömen den Rücken hinab.
Aber spätestens als wir ein paar freilaufende Kamele zu Gesicht bekommen, ist es mit der Zurückhaltung wieder vorbei. Ein paar hundert Meter jagen wir die putzig trabenden Tiere durch endlich wieder karamellfarbenen Sand. Und siehe da: Auch die Jungs beschweren sich ganz plötzlich nicht mehr über das vorher verschmähte Gelände. Einzig Robbys mahnende Ansprache, dass unsere kleine Kamelsafari nicht ganz ungefährlich war, lässt uns reumütig werden.
Ich schiebe unsere Gedankenlosigkeit einfach auf die fremdartige Szenerie Ägyptens. Schließlich vergisst man beim Staunen sehr schnell alles andere um sich herum. Während der kurzen Pausen am ägyptischen Wegesrand fällt nicht nur ein ums andere Mal Claus Lieblingswort „Gigantisch!“ zum x-ten Mal, auch die eine oder andere Erkenntnis. Das wir in viel zu hektischen Zeiten leben, eigentlich ja nichts mehr richtig genießen können.
Stimmt schon, doch mitunter wird selbst mir Philosophiestudent das Ganze zu philosophisch. Auch wenn ich mir rückblickend am Schreibtisch sitzend mittlerweile einen „Wüstenschalter“ wünschen würde.
Beim allabendlichen Shai schwärmen die beiden Schwaben angeführt von Robby immer wieder von farbenfroh beschriebenen Sonnenaufgang in der Wüste. Komisch, denke ich, pennen die doch meistens so lang wie ich. Das etwas gequälte Aufstehen meinerseits am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang wird jedenfalls belohnt. Wer denkt, die Wüste sei trist und eintönig, irrt spätestens beim Sonnenaufgang gewaltig. Um halb sechs steigt vor einem die Sonne empor und zieht in der Ferne lange Schatten. Die ägyptische Marslandschaft glüht dann in tief orange-gelben Tönen, wie aus Karamell geformt stechen Hügel und Berge empor. Ein fantastischer Ausblick reiht sich an den Nächsten.
Am vorletzten Tag muss ich dann doch noch mein Versprechen brechen, die X-Challenge heile nach Hause zu fahren. Unterwegs plättet mir der Wüstenklassiker schlechthin meinen Vorderradpneu: ein Stein. Fast auf der Felge fahrend komme ich zum Stehen. Während wir uns reichlich brutal über die Felge hermachen und beim Gummi abpuhlen den einen oder anderen Kratzer nicht zu verhindern mögen, machen die Beduinen nebenan seelenruhig Tee. „Das liebe ich so an denen“, gibt Robby lachend zu Protokoll. „Wenn du hier irgendwo ein Problem hast kannst du dir sicher sein, die kommen aus dem Nichts vorbeigefahren. Aber anstatt sich direkt an das Problem zu machen, trinken die zur Entspannung erst einmal einen Tee. Und dann, wenn die Zeit reif ist, geht’s los“.
Nach der Woche in der gar nicht so einsamen Wüste neigt sich der Trip jäh dem Ende zu, als wir aus dem letzten Wadi hinaus düsen und am Horizont wieder das Rote Meer erspähen können. Viel zu kurz war der Trip, der anschließende Kater umso schlimmer. Wo ich noch mit verspannten Muskeln gerechnet hatte, nervt am Flughafen angekommen besonders die Schar Urlaubswütiger. Als sich eine britische Großfamilie direkt vor mir über eine Magnumflasche Vodka her macht, vermutlich um den krebsroten Sonnenbrand zu übertünchen, gehe ich in ein Café und bestelle mir erst einmal einen schwarzen Tee.
Dann, so habe ich’s bei den Beduinen gelernt, schaue ich eben weiter.
Info Diese Reisereportage erschien 2015 unter dem Titel „Im Reich der Stille“ in der Zeitschrift Motorrad News, Ausgabe #04-2015.