Zwei Wochen Urlaub, zwei vollbeladene BMW GS, zwei Mal gut tausend Euro zum Verprassen. Wie viele Länder Europas man damit wohl unsicher machen kann? Eine Kilometersause der dezent planlos-chaotischen Art.
Eine kurze Absprache, dann steht die Route fest: Wir machen uns auf Richtung Balkan. Sarajevo, vor 100 Jahren Ausgangspunkt einer der größten Katastrophen überhaupt, steht als Ziel auf unserer Agenda. Drumherum wollen noch Land und Leute Bosniens kennenlernen, Kroatiens Küste genießen, eventuell über Ungarn zurückreisen. So haben wir zwei, Moritz und Moritz, uns das vorgestellt. Etwas über 1000 Euro lagern dazu abrufbereit in der Brieftasche. Gut 5000 Kilometer, so unsere grobe Rechnung, können wir damit recht unluxuriös abfahren. Kein schlechter Plan bis dahin.
Wie so oft ist die blanke Theorie jedoch meilenweit entfernt von der tatsächlichen Praxis. Moritz würde mit seiner frischgemachten Gummikuh am liebsten nur durch das Dickicht des Balkans zirkeln, ich hingegen möchte lieber alles an Kurven mitnehmen, was so auf dem Speiseplan der Großregion steht. Und da gibt’s bekanntlich so einiges zu entdecken. Kollegial wie wir sind, treffen wir uns in der Mitte: Da wo man gefahrlos mit unseren vollbeladenen Dickschiffen abseits der geteerten Piste fahren kann, wollen wir entlang. Alles andere bitte möglichst kurvig, schlage ich vor.
Dann geht’s auch schon los. Beim Trinkstopp am Wegesrand, kurz hinter der slowenischen Grenze, entdeckt Moritz auf seinem Navi eine vielversprechende Route. Unbefestigt, aber als alte Bundesstraße markiert, sagt er. Fröhlich biegt er vorweg fahrend auf den Feldweg – und wir finden uns keine 200 Meter später mitten im Wald wieder. Alles korrekt, signalisiert der Satellit aus dem Orbit weiterhin. Nach und nach bricht der Teer auf und die ersten gröberen Stellen scheinen durch. Da wird selbst mir Heißsporn reichlich mulmig zumute. Die uns plötzlich entgegenkommenden Wanderer wundern sich entsprechend genauso wie wir. Die Herde stöckchenunterstützter Freiläufer hatten vermutlich mit allem gerechnet, nur nicht mit zwei bajuwarischen Boxern auf ihrem Wanderweg.
Während sich mein Namensvetter vor Stolz über diese Finte nicht mehr einkriegt, bin ich nur noch heilfroh, unbeschadet mit der Dauertest-GS durch die etwa 70 Kilometer lange Wildnis-Etappe getigert zu sein. So richtig gefallen finde ich am Schottern unter den Umständen nicht. Für mich überwiegt zudem ein riesengroßer Nachteil: der massive Zeitverlust. Gelenkt von meinem Wahn, doch noch auf dem favorisierten Campingplatz anzukommen, stranden wir völlig erschöpft fast 60 Kilometer vom Tagesziel entfernt.
Als uns dann die Einheimischen partout kein bezahlbares Zimmer anbieten wollen, ist die Misere perfekt. Kurzerhand quartieren wir uns neben zwei jungen Brummi-Fahrern in die gut zwei Quadratmeter großen und kalkweißen Umzieh-Kabinen am Strand. Moritz pennt, wie üblich, nach seiner allabendlichen Zigarette sofort ein, während ich noch ein wenig nervös in den sternenklaren Himmel starre und hoffe, dass es morgen trocken bleibt. Und wir keinen Ärger bekommen. Oder uns jemand ausraubt. In Sichtweite unseres Notzimmers zieht währenddessen ein bedrohlich grollendes Gewitter über die Insel Krk.
Am nächsten Morgen hängt die graue Suppe dann auch über unseren Helmen. Die Wetter-App bescheinigt der gesamten Küste eine regnerische Woche, was ich laut seufzend zur Kenntnis nehme. Mein Plan, die famose Küstenstraße entlangzurauschen, ist damit für diese Woche passé. Nur im Hinterland in Richtung Bosnien schaut’s etwas besser aus. „Macht nix“, sage ich, „fahren wir eben über Sinj und verlassen die Küste schleunigst“. Sonnensuche in Bosnien also.
Kurz hinter Karlobag fällt Moritz dann sein eierndes Vorderrad auf. Schnell wissen wir auch wieso: Beim Reifenwechsel hatte er vergessen, eine Schraube an der Achsaufnahme richtig zu sichern. Nun klafft dort gähnende Leere. Wir sichern das Ganze halbherzig mit einem Kabelbinder – und hoffen, dass das Glück uns nicht auf den letzten Metern verlässt. Ganz vorsichtig – er hat sein Glück schließlich schon 1200 Kilometer herausgefordert – geht’s zur nächsten Werkstatt. Gegen ein paar Euro Trinkgeld und eine Dose Bier hilft uns das Vater-Sohn-Gespann bereitwillig weiter und sichert die lose Achse mit einer frisch gedrehten neuen Schraube. Dann geht’s auch schon über die erste außereuropäische Grenze unseres Lebens.
Bosnien ist ein zu unrecht verschmähtes Land: Wunderbare Leute, hervorragendes Essen und eine mitunter gigantische Landschaft zieht selbst Skeptiker Moritz in seinen Bann. Die starken Regenfälle des letzten Jahres (Anmerkung: 2013) haben deutliche Spuren hinterlassen – besonders an der teilweise filigranen Infrastruktur. Entlang der Flüsse Una und Bosna sieht man noch immer weitläufige Zerstörungen der Fluten. Beeindruckt sind wir von der Geschichte eines Hotelbesitzers, der uns Fotos von seinem frisch renovierten Hotel vor und nach der Flut präsentiert. Bis zu seiner Terrasse stand das Wasser, etwa 20 Meter vom Ufer entfernt und, so schätzt er, mindestens eineinhalb Meter über der Straße. Seiner Einladung, eine Nacht bei ihm zu bleiben, folgen wir beim wieder einmal aufziehenden Gewitter gerne. Für gut 25 Euro mit Frühstück überlässt er uns ein Doppelzimmer und gibt uns wertvolle Tourentipps für die Weiterfahrt.
Die Landschaft lässt uns regelmäßig am Wegesrand träumen, so das Wetter denn will. Irgendwann, nach mittlerweile fast 2500 Kilometer habe ich trotzdem kurzzeitig genug vom Motorradfahren. Ich bin wegen der ständigen Wetterwechsel mittlerweile kräftig erkältet und entsprechend ausgelaugt. Am Wegesrand der Bosna, irgendwo auf dem Weg nach Sarajevo, halten wir auf kerzengerader Strecke an. Während ich mir einen wohltuenden Mix aus Gripostat, Banane und Wasser reinhaue, fährt unweit von uns ein Auto aus der Einfahrt. Ein alter Klassiker, staune ich. Perfekt restauriert – echter Seltenheitswert auf bosnischen Straßen. Auf der Gegenfahrbahn halten beide an. „Habt ihr euch verfahren? Oder habt ihr eine Panne? Braucht ihr Hilfe?“ fragt uns die Dame im Auto freundlich. Wir lachen: „Nee nee“ sage ich, „wir machen nur kurz Pause.“. „Dann macht doch Pause mit uns. Es gibt auch frischen Kaffee!“ tönt aus dem Ford.
Hautnah erleben wir dann, was man uns dem Weg immer wieder nahegelegt und gezeigt hat: Die Bosnisch-Kroatische-Gastfreundschaft. Bei meiner aufziehenden Erkältung hilft der selbstgebrannte Schnaps mit dem Tannenzapfen drin wie von den beiden angepriesen. Nach einem Teller frischer Suppe genießen wir mit dem Automechaniker, der sich wie ein kleines Kind über unsere vollbeladenen Bikes freut und uns selber seine fast makellos restaurierte R50/5 stolz im Wohnzimmer präsentiert, und der gelernten Sattlerin die letzten Sonnenstrahlen des jungen Abends.
Doch wir müssen weiter. Das Angebot, auf der Wiese vorm Haus unser Zelt aufzuschlagen, lehnen wir daher dankend ab. Wir brauchen endlich mal wieder ein richtiges Bett – wollen aber auf jeden Fall wiederkommen und müssen das hoch und heilig versprechen.
Auf Sarajevo können wir beide uns dann nicht so recht einigen. Ich hatte eine Städtetour immer fest auf meinem Reisezettelchen, mein Kumpan hingegen bekommt bei der Masse an Autos und dem permanenten Trubel den Städtekollaps. Verständlich irgendwo – dennoch sorgt das für schlechte Laune und etwas Zoff. Meine Auflage, dafür dann wenigstens ins Hotel zu gehen, wird nur ungern bejaht. Spätestens beim Ausblick aus dem Tower sind wir beide aber wieder zufrieden. Ein weiteres Schnäppchen war’s sowieso: Gut 50 Euro für eine Nacht mit Frühstück in einem Fünf-Sterne-Hotel in einer der geschichtsträchtigsten Städte Osteuropas ist nicht zu teuer.
Frühmorgens bewegen wir uns in Richtung Jablanica, dann weiter Richtung Split. Unterwegs beim Fotografieren knattern zwei Ur-Ténéres an uns vorbei. Belgische Kennzeichen, jugendlich-unvernünftig mit Jeans und Lederjacke bekleidet. Ich stupse Moritz an. „Wetten“ sage ich, „dass die in unserem Alter sind?“. Wir rasen hinterher und halten die beiden an. Siehe da: Serge und Griffin, zwei Studenten wie wir, sind auf dem Weg nach Split. Kurzerhand schließen sich die zwei unserer Chaos-Tour an. Irgendwo am Wegesrand, nachdem wir in die frische Neretva gesprungen sind, fällt das Stichwort Hvar. „Ich kenne mich da gut aus“, sage ich, nicht ohne Stolz. Die drei sind so erstaunt über meine Geschichten von der Insel, dass wir in Richtung Split rasen.
Als wir am Hafen ankommen ist großer Trubel angesagt: Unsere Fähre befindet sich da gerade im Ablegevorgang. Die Zeiten, die ich noch im Kopf hatte, erwiesen sich leider nur als Hirngespinst. Völlig panisch schaut man zur Mannschaft rüber, winkt, bittet uns schnell zu bezahlen, um dann in letzter Sekunde noch mitzufahren. Gut: So sparen wir uns eine Nacht in der wunderschönen, aber recht teuren Altstadt Splits. Auf Hvar angekommen, finden wir zum Glück auch schnell ein Apartment für uns vier. Kurz unter die Dusche, dann nach einem kleinen Umweg mit dem Taxi einmal ans andere Ende der Insel, um dort die Partymeile unsicher zu machen. Getrieben von schlechtem Techno, viel zu viel Alkohol und besoffenen Briten landen wir schlussendlich auf einer Party mit horrendem Eintritt. Dafür aber richtig exklusiv auf einer kleinen Insel vor der malerisch beleuchteten Altstadtkulisse.
Am darauffolgenden Morgen reißt mich die gleißend helle Sonne aus dem Schönheitsschlaf. Mir brummt gehörig der Schädel. Mein Blick in das leere Portmonee verheißt nichts Gutes, der fehlende Kompagnon ebensowenig. Als dann die Tür aufplatzt, kommt dieser Chaot jedoch freudestrahlend herein und mault rum, ich solle endlich aufstehen. Er habe schließlich Frühstück besorgt. Auch ein Boot hat er auftreiben können, das wir mieten könnten und durch uns vier geteilt sogar noch bezahlbar ist. Gesagt, getan: Nach dem Frühstück trinken wir zur Mittagszeit eiskaltes Dosen-Karlovacko in einer Fünf-PS-Nusschale und genießen die Zeit auf der glasklaren Adria.
Beim abendlichen Kassensturz im gemeinsamen Sobe macht die Realität uns schnell nüchtern und vermiest uns kurzeitig die Stimmung. Während wir mit den Belgiern gemeinsam Pasta kochen, merken wir, dass der planmäßige Trip erneut durch Bosnien schlicht nicht bezahlbar ist. Damit fällt auch der Heimweg über Ungarn flach. Griffin und Serge schlagen freundlicherweise vor, mit ihnen weiter zu reisen. Sie wollen noch nach Venedig und dann zu Omas Ferienwohnung in das High-Society-Dörfchen Gstaad in der Schweiz. Lange überlegen müssen wir bei dem Angebot nicht.
Wieder auf dem Festland angekommen, ziehen wir wie von der Tarantel gestochen unsere Linien durch die immer noch dun- kelgraue Suppe, welche die eigentlich so malerische Küstenstraße Kroatiens auch über eine Woche nach Ankunft noch immer verdunkelt. Die großen Tropfen verwandeln den Teer glücklicherweise nicht mehr in eine Seifenlandschaft wie aus Geschichten vor unserer Zeit, auch das Verkehrsaufkommen hält sich dank der Küstenautobahn in Grenzen. Während wir zwei mit unseren Dickschiffen regelmäßig auf unsere beiden Eintopf-Kumpels warten müssen, weil die mit ihren vollbeladenen Karren nicht hinterher kommen, verwünsche ich ein ums andere Mal das Wetter.
Dann geht’s gefühlt viel zu schnell. Nachdem wir uns in Venedig von den Mückenschwärmen das Blut haben aussaugen lassen, uns der Verkehr in Milan das eine oder andere Mal fiese Witze über die irrwitzig autofahrenden Italiener machen ließ und sich Serge und Griffin auf einer großflächig ausgebreiteten Lache Diesel langgemacht haben, schauen wir auf dem Simplon-Pass in etwas über 2000 Metern auf blauen Himmel. Nur noch eineinhalb gemeinsame Tage liegen vor uns. Insgesamt sieben Länder haben wir jetzt schon durchfahren: Deutschland, Österreich, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Italien und jetzt eben die Schweiz.
Am Abend gehen bei der teuersten Pizza die ich je gegessen habe, meine letzten Groschen über die Theke. Doch als Serge, Griffin und Moritz noch eine Runde bestellen, ziehe ich trotzdem mit. Manche Dinge kann man mit Geld eben nicht kaufen, denke ich, als wir gemeinsam auf unsere Reise anstoßen.
Info Diese Reisereportage erschien 2015 unter dem Titel „Chaos Kommando“ in der Zeitschrift Motorrad News, Ausgabe #12-2015.